Langzeit-Review: Steven Wilson – The Future Bites (Großbritannien, 2021)

Der Titel dieses Blogs (Buying New Music) ist angelehnt an einen meiner Lieblingstitel von meiner Lieblingsband Porcupine Tree: Buying New Soul. Und da Steven Wilson die Band Ende der 1980er gegründet und dann mehr als zwei Jahrzehnte deren Frontmann und kreativer Kopf war, hat er natürlich einen besonderen Ehrenplatz in meinem Herz als Musikfan.

Daher war es immer so, dass ich jede Veröffentlichung des 53-Jährigen mit großem Enthusiasmus erwartet habe. Und nachdem er die Speerspitze des modernen Progressive Rock – wenn auch nicht offiziell – aufgelöst hatte, bin ich ihm auch auf seinen Solopfaden bedingungslos gefolgt. Sogar “To The Bone” (2017) mit dem Single-Totalausfall “Permanating” und einigen weiteren mittelmäßigen Songs konnte ich mit der Zeit durchaus etwas abgewinnen.

Release und Konzerttour wegen Corona verschoben

Am 29. Januar 2021 kam endlich dessen Nachfolger “The Future Bites” heraus. Das Album sollte eigentlich zu dem Zeitpunkt schon ein gutes halbes Jahr auf dem Markt sein und Wilson es längst auf einer ausgedehnten Welt-Tournee in großen Hallen promoten. Aber dann kam die Corona-Pandemie auch dem ambitionierten Briten dazwischen.

Stattdessen veröffentlichte er fast das halbe Album häppchenweise auf den diversen Streamingplattformen. Diese Vorgehensweise hat mir dann – abseits der unglücklichen äußere Umstände – endgültig die Vorfreude verdorben. Denn schon Anfang 2020 machten Berichte die Runde, Wilson wollte damit seiner Vorliebe für Künstler wie Prince oder gar Donna Summer ein Ventil geben. Gegen die besagten Musiker gibt’s nix Negatives zu sagen – höre ich selbst manchmal. Aber doch bitte nicht in einer Version von Prog-Rocker Steven Wilson!

Leider haben sich die Befürchtungen der Musikpresse bestätigt. Und auch mehr als ein halbes Jahr nach dem Release bin ich mit TFB nicht warm geworden.

Der Anfang ist gar nicht mal schlecht

Dabei beginnt die Scheibe gar nicht mal schlecht. Mit dem kurzen, aber düsteren Akustik-Stück “Unself”, das direkt in “Self” übergeht. Das groovt echt gut, man kann dazu sogar tanzen – und das ist in diesem Fall sogar ein Kompliment. Dazu kommen der intelligente Text und abgefahrene Soundeffekte –  unter anderem von einer verzerrten Gitarre – fertig ist ein Song, der live zu einem echten Highlight werden könnte, falls Wilson irgendwann doch wieder Konzerte spielt. Außerdem gibt’s ein wirklich tolles Musikvideo dazu (siehe unten).

Weiter geht es mit “King Ghost”, das zwar zum Beginn etwas spröde daherkommt, aber im melodiösen Refrain Wilson in Reinkultur ist. Ich gebe zu, eine kleine Gänsehaut habe bei ich seinem klagenden Gesang bekommen. Leider geht das Album dann den Bach runter. “12 Things I Forgot” hat zumindest noch durchaus interessante Lyrics zu bieten, ist aber an den hohen Maßstäben des britischen Musikgenies gemessen, trotzdem sehr unspektakulär.

“Eminent Sleaze” ist dann die angedrohte Reminiszenz an Prince. Aber leider eine schlechte. Es geht mir damit ähnlich wie mit “Permanating” vom Vorgänger-Werk. Das Stück sollte ja eine Hommage an ABBA sein. Aber mal ehrlich: Wäre ich deren Songschreiber Björn Ulveaus, würde ich mich eher beleidigt wegdrehen. Denn es ist einfach mies komponiert und zurecht kein – von Wilson vielleicht insgeheim erhoffter – Charthit geworden.

Steven Wilson - SELF (Official Video)

Elton John mit Gastauftritt in “Personal Shopper”

Nach dem schleppenden Rhythmus von “Eminent Sleaze”, das irgendwie nicht vom Fleck kommt, bin ich immer so ermüdet, dass ich das folgende Lied “Man Of The People” gar nicht richtig wahrnehme. Das ist aber auch kein Wunder: Es ist ähnlich unspektakulär wie seine Vorgänger und würde sogar auf dem letzten, ebenfalls extrem schwachen Blackfield-Album (der Kooperation Wilsons mit Israels Star-Sänger Aviv Geffen) nicht positiv herausstechen.

Immerhin: Dann kommt mit “Personal Shopper” mein persönliches Highlight des Albums. Über neun Minuten lang und ein sarkastischer Kommentar zu den Schattenseiten unserer Konsumwelt – der düstere Beat würde sogar Nine Inch Nails zur Ehre gereichen. Aufgelockert wird das Ganze durch einen ins Ohr gehenden Refrain mit Background-Sängerinnen und einen Gastauftritt von Elton John (!), der in seiner unnachahmlichen Art alle möglichen und unmöglichen Konsumgüter aufzählt.

TFB-Werbekampagne ist ein Flop – wie das ganze Album

Um dieses zentrale Stück des Albums herum entwickelte Steven Wilson Anfang des vergangenen Jahres ein aufwendiges Promotion-Konzept mit einer Werbekampagne für TFB, das auch bei den Live-Auftritten auftauchen sollte. Doch Corona machte alle Pläne zunichte und das Konzept wird nun wohl komplett in der Tonne landen. Denn angeblich arbeitet der Brite schon am nächsten Solo-Album und veränderten Tourplänen.

“Follower” kommt in dem ganzen Pop-Zeugs ausnahmsweise mal richtig (brit-)rockig und rotzig daher. Ist ganz nett anzuhören, aber natürlich nicht mein bewunderter, feingeistiger Wilson, der bei Porcupine Tree für Meisterwerke wie “Arriving Somewhere But Not Here”, “Russia On Ice” oder oben erwähntes “Buying New Soul” verantwortlich zeichnet.

Und dann geht TFB mit dem nächsten Stück auch schon zu Ende. “Count Of Unease” wird unter der Fangemeinde hochgelobt. Aber im Vergleich mit Wilsons anderen genialen Abschlussstücken, die den Zuhörer emotional mitreißen, fällt es ebenfalls ab. Dennoch ein halbwegs versöhnlicher Abschluss der 42 meistens enttäuschenden Minuten.

Pop kann Steven Wilson nicht

Mein Fazit fällt eindeutig aus: Hier ist ein Künstler mit seiner übertriebenen Lust auf Veränderung weit übers Ziel und auch seine Fähigkeiten hinausgeschossen. Denn gute Popmusik kann Steven Wilson einfach nicht, dafür ist er dann doch immer noch zu verkopft – und zu verkrampft.

Das ganze Album wirkt irgendwie unrund, weil er es offenbar allen recht machen wollte – und am Ende doch niemanden, ob Pop-, Electronic- oder Rock-Fan, wirklich glücklich gemacht hat. Der berühmte Satz von Wolf Biermann “Nur wer sich ändert, bleibt sich treu” findet in diesem Fall keine Bestätigung.

Ich hoffe nur, dass Wilson wieder auf den rechten Pfad kommt und schon mit dem nächsten Album zu seinen Prog-Rock-Wurzeln zurückkehrt. Denn das Genre beherrscht er wie kaum ein anderer.

P.S.: Das Album kann man jetzt auf den Streamingdiensten als zuvor nur in physikalischer Form erhältliche Deluxe-Version anhören. Diese enthält neben jeder Menge unveröffentlichter B-Seiten und Remixes auch einige längere Alternative-Versionen der TFB-Songs. Diese sind meist besser als die ursprünglichen Versionen – und ich frage mich, warum sie nicht den Weg auf das Album gefunden haben.

Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (6 von 12 Punkten)

Album: Steven Wilson – The Future Bites (2018)
Laufzeit: 42:00
Label: Caroline International
Format: Digital, CD, BluRay, Vinyl

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Oliver
Oliver

Ich wurde 1971 geboren – dem Jahr von #4 von Led Zeppelin, Blue von Joni Mitchell, Meddle von Pink Floyd und Master Of Reality von Black Sabbath. Und so unterschiedlich die Stile dieser klassischen Alben sind, so unterschiedlich ist auch mein Musikgeschmack. Hier gibt es mehr Infos über mich

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