Review: Van Der Graaf Generator – The Charisma Years 1970-1978 (Großbritannien, 2021)

Am Anfang einer jeden Band steht ihr Name. Yes, Genesis, Pink Floyd – diesen Progressive-Rock-Legenden hat ein kurzer Begriff auf dem Weg zum Weltruhm nicht geschadet. Und dann gibt es eben Van Der Graaf Generator… Da muss man zweimal überlegen: Was für ein Generator?

Bei einem komplizierten Namen alleine hat es Gründer Peter Hammill – der die Gruppe 1967 zusammen mit Chris Judge Smith in Manchester aus der Taufe hob – nicht belassen. Auch die Musik ist anspruchsvoll, Hammills Gesang exaltiert, manchmal regelrecht opernhaft, seine Texte sind düster. Kurzum: Die Briten – der Einfachheit halber meist mit VDGG abgekürzt – machten es ihrem Publikum und den Kritikern nie leicht. Die Konsequenz: Großer kommerzieller Erfolg war ihnen nie vergönnt. Aber immerhin die Anerkennung einer kleinen, über die Jahrzehnte stetig wachsenden Fangemeinde – die fasziniert ist von ungewöhnlichen Klangwelten und lyrischen Untergangsszenarien.

Van Der Graaf Generator haben in Italien Kultstatus

Einzige Ausnahme bildete Italien, wo Peter Hammill und Co. Anfang der 1970er Jahre regelrechten Kultstatus errangen und sogar auf der Straße um Autogramme gebeten wurden. Kurz bevor aber der Sprung zu Superstars in dem Land gelang, löste sich die Gruppe erstmals auf. Irgendwie passend – Van Der Graaf Generator zogen eben immer ihr eigenes Ding durch und jagten nie irgendwelchen Trends hinterher.

Umso erstaunlicher, dass eine solche Formation auch 2021 noch existiert. Für das nächste Jahr ist sogar eine umfangreiche Europa-Tour geplant, die eigentlich schon im vergangenen Jahr stattfinden sollte, wegen der Pandemie aber verschoben werden musste. In schöner Regelmäßigkeit veröffentlichen VDGG außerdem neue Alben. Das bisher letzte war “Do Not Disturb” aus dem Jahr 2016.

Eine Band mit einem großartigen Vermächtnis

An dieser Stelle möchte ich mich aber dem früheren Vermächtnis der Band widmen, das wirklich großartig ist. Wie man auf dem am 3. September erschienenen, ebenso großartigen Boxset “The Charisma Years 1970-1978” hören kann. Es blickt zurück auf die klassische Phase von VDGG: ab dem zweiten Album “The Least We Can Do Is Wave To Each Other” bis hin zur damaligen Abschiedsplatte “The Quiet Zone/The Pleasure Dome.

Alle sieben Veröffentlichungen wurden aufwändig von Stephen W. Tayler (Peter Gabriel, Kate Bush etc.) von den Original-Mastertapes remastered. Die bekanntesten vier Alben erhielten von ihm zusätzlich einen neuen Stereo- und 5.1-Mix verpasst. Außerdem ist auf der umfangreichen Kollektion – neben dem zuvor schon erhältlichen Konzert-Mitschnitt “Vital” – ein bisher unveröffentlichtes Live-Album aus dem Jahr 1976 in Paris zu finden, das VDGG auf dem absoluten Höhepunkt ihres Schaffens zeigt. Abgerundet wird das Boxset durch weitere Live-Versionen, B-Seiten und Demotracks.

Fantastische Remixe der klassischen Alben

Charisma Records dürfte vielen Prog-Rock-Fans, die sich für die Ursprünge des Genres interessieren, ein Begriff sein. Das Label nahm nach seiner Gründung 1969 zunächst Van Der Graaf Generator unter Vertrag, wenig später folgten weitere Bands, die später zu einer großen Karriere aufbrachen – zum Beispiel die erwähnten Genesis oder auch die folkigen Lindisfarne.

Ausgerechnet bei ihrer ersten Verpflichtung stellte sich der große Erfolg – aus oben genannten Gründen – aber nicht ein. Völlig zu unrecht, möchte man sagen, wenn man sich deren Werke jetzt in bester Tonqualität zu Gemüte führt. Was Sound-Guru Stephen W. Tayler den Original-Mastertapes entlockt, ist wirklich unglaublich. Vor allem bei den neuen Stereo-Versionen entdeckt man immer wieder Instrumente, die vorher nicht zu hören waren. Besonders profitiert Guy Evans von der neuen Abmischung. Sein feinfühliges, teilweise jazziges Schlagzeug-Spiel kommt nun erst so richtig zum Vorschein.

Hugh Banton spielt neben den Keyboards gleichzeitig Bass Pedals bei Van Der Graaf Generator – hier ein Foto von einem Auftritt im kanadischen Ottawa. (This file is licensed under the Creative Commons Attribution 2.0 Generic license)

Peter Hammills düstere Visionen

Die überragende Soundqualität ist aber nur eine Facette, die “The Charisma Years” so faszinierend macht. Denn auch die Musik und die Texte von VDGG suchten selbst in den 1970er Jahren, als Plattenfirmen noch keine Hit-Maschinerie waren und den Musikern viel mehr Freiheiten ließen, ihresgleichen. Nachdem Co-Bandgründer Smith die Band noch vor der Veröffentlichung des Debüts “The Aerosol Grey Machine” (1969) verließ, übernahm Peter Hammill den Posten als kreativer Kopf.

Und das hat der künstlerischen Entwicklung der Band während ihrer Zeit bei Charisma nicht geschadet. Der Brite entpuppte sich als wahrer Wortkünstler, der mit seinen düsteren, teilweise schon nihilistischen Visionen eine ganze Generation von Songwritern beeinflusst hat. Auch ein anderer bekannter Peter (Gabriel) oder David Bowie gaben Hammill als eine ihrer wichtigsten Inspirationen an.

Keyboarder spielt gleichzeitig die Bass-Linien

Die beiden populärsten Scheiben von Van Der Graaf Generator sind sicher die Alben Nummer 3 und 4: “H To He Who Am The Only One” und “Pawn Hearts”. Beide sind noch deutlich am klassischen Prog Rock orientiert. Auf letzterer befindet sich unter den nur drei Stücken auch das Magnum Opus: das 23-minütige “A Plague Of Lighthouse Keepers” – quasi das “Supper’s Ready” oder “Close To The Edge” der Band. Man sollte es als ernsthafter Prog-Fan zumindest einmal in seinem Leben gehört haben. Ob es besser ist als die zuvor genannten Meisterwerke, ist dagegen wie immer Geschmacksache.

Wie fast alles bei VDGG war auch die Instrumentierung ungewöhnlich. Hugh Banton spielte ab Album #3 nicht nur Orgel und Klavier, sondern gleichzeitig auch die Bass Pedals, da die Gruppe nach dem Abgang von Nic Potter 1970 keinen richtigen Bassisten mehr hatte. Außerdem sind kaum Gitarren zu hören. Diesen Part füllte David Jackson stattdessen mit seinen verschiedenen Saxophonen aus, die ebenfalls zum jazzigen Gesamteindruck beitrugen.

Erstes Comeback 1975 mit aggressiverer Attitüde

Nachdem sich die Gruppe 1972 getrennt hatte, verfolgte Peter Hammill seine Solokarriere weiter – und entdeckte dabei auch seine Vorliebe für harten Gitarrensound. 1975 ging daraus “Nadir’s Big Chance” hervor, das mit seiner – vor allem im Titelsong – rotzigen Attitüde sogar als Vorläufer des Punk gehandelt wurde. Seine früheren Bandkollegen waren bei der Produktion des Albums mit im Boot –  und kurzerhand kam man auf die Idee, nach dieser Kooperation direkt Van Der Graaf Generator wieder auferstehen zu lassen.

Die Kreativität war in dieser Zeit auf einem Höhepunkt: Innerhalb von nur anderthalb Jahren entstanden mit “Godbluff, “Still Life” und “World Record” gleich drei Studioalben, die alle ihren eigenen Reiz hatten. Ich persönlich finde die aggressive Attitude der erstgenannten Platte am überzeugendsten. Peter Hammill hat hier auch einige seiner besten Gesangsmomente. Man höre sich nur “Arrow” an – dort singt sich der Frontmann die Seele aus dem Leib.

Arrow (Remastered 2021)

Nach dem überragenden Dreierpack war aber erstmal Schluss mit dem klassischen Lineup Hammill. Banton, Jackson und Evans. Der Keyboarder und der Saxofonist verließen die Band. Für “The Quiet Zone/The Pleasure Dome” (1978) holte sich Peter Hammill daher Ex-Bassist Nic Potter wieder mit ins Boot und außerdem Geiger Graham Smith, der ganz neue Akzente setzen sollte. Mit Erfolg: Denn tatsächlich ist dieses Werk völlig anders als alles, was Van Der Graaf Generator davor und danach gemacht haben.

Mit diesem letzten Album bei Charisma Records schien auch die Geschichte der Band beendet zu sein. Aber 27 Jahre später belehrte sie die gesamte Musikszene völlig überraschend eines besseren. Beim dritten Comeback mit dem Album “Present” (2005) kam sogar die klassische VDGG-Formation wieder zusammen. Dann jedoch sagte Saxofonist David Jackson endgültig Adieu, und die Band macht seitdem als Trio weiter.

Am Donnerstag, 28. April 2022, kann man die drei Musiker in der Kantine in Köln auf der Bühne sehen. Karten für das Konzert sind unter anderem bei Eventim erhältlich.

Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (11 von 12 Punkten)

Boxset: Van der Graaf Generator – The Charisma Years 1970-1978 (17 CDs & 3 BluRays)
Label: Burning Shed

Van Der Graaf Generator im Internet:
Webseite
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Oliver
Oliver

Ich wurde 1971 geboren – dem Jahr von #4 von Led Zeppelin, Blue von Joni Mitchell, Meddle von Pink Floyd und Master Of Reality von Black Sabbath. Und so unterschiedlich die Stile dieser klassischen Alben sind, so unterschiedlich ist auch mein Musikgeschmack. Hier gibt es mehr Infos über mich

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