Review: The Pineapple Thief – Nothing But The Truth (Live – Großbritannien, 2021)

Mit “Nothing But The Truth” veröffentlichen The Pineapple Thief ihr drittes Live-Album binnen nur vier Jahren. Aber anstatt sich zu wiederholen, beschreiten die Briten mit ihrem aktuellen Werk ganz neue Wege.

Was macht eine überragende Band aus? Ein charismatischer Sänger ist sicher von Vorteil, genauso wie ein brillanter Gitarrist. Aber noch viel wichtiger, wenn auch meist leider weniger beachtet, ist die Truppe im Hintergrund. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Led Zeppelin wären wohl kaum über den Status einer soliden 1970er-Jahre-Combo hinausgekommen, hätten Bassist John Paul Jones und Schlagzeuger John Bonham als “Rhythmusfraktion” nicht – wortwörtlich – das Fundament für den Welterfolg gelegt.

Schlagzeuger Gavin Harrison ändert alles

Nun ist es sicherlich vermessen, die wohl einflussreichste Rockband aller Zeiten mit The Pineapple Thief zu vergleichen. Aber dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass auch die Popularität der 1999 von Bruce Soord im britischen Yeovil gegründeten Formation in den letzten Jahren einen großen Satz nach oben gemacht hat – und das liegt in erster Line an einem Besetzungswechsel auf der Drummer-Position.

Seit 2016 ist nämlich mit Gavin Harrison einer der besten seiner Zunft mit an Bord. Für den 58-Jährigen, der auch als Studiomusiker einen hervorragenden Ruf genießt, ist das Engagement eine logische Entscheidung, nachdem er zuvor bei der ehemaligen Progressive-Rock-Speerspitze Porcupine Tree musikalisch auf ähnlichen Pfaden unterwegs gewesen war.

Konzert kann auch ohne Publikum begeistern

Durch sein virtuoses Spiel gewinnt nun auch die andere Gruppe mit den Anfangsbuchstaben PT enorm an Profil. Bei der ersten Zusammenarbeit “Your Wilderness”, die ich bis heute für das beste Werk von Pineapple Thief halte, war Harrison noch als Gastmusiker dabei. Bei den letzten beiden Alben war der Schlagzeuger aber dann bereits vollwertiges Mitglied und brachte sich auch in den Songwriting-Prozess ein.

Noch mehr als im Studio profitiert die fünfköpfige Gruppe aber auf der Bühne von ihrem großen Rückhalt am Drumkit. Davon überzeugen kann man sich beim am 22. Oktober veröffentlichten “Nothing But The Truth” – dem dritten Live-Album innerhalb von nur vier Jahren. Anders als bei den vorherigen Mitschnitten handelt es sich diesmal um ein Konzert, das im Lockdown Ende 2020 komplett ohne Publikum eingespielt wurde.

The Pineapple Thief sind auf großer Europatour

Im Mittelpunkt der Setlist stehen natürlich die Songs des letzten Studio-Albums “Versions Of The Truth”, auf den der Titel des Live-Nachfolgers natürlich anspielt. Es war im September 2020 herausgekommen und dann im allgemeinen Corona-Chaos, das auch die Musikszene lange im Griff hatte, etwas untergegangen. So mussten The Pineapple Thief auch ihre geplante Tour, mit der das neue Werk promoted werden sollte, kurzfristig absagen. Mehr als ein Jahr später ist die Band nun aber (mit Alex Henry Foster als Support) auf großer Europatour und macht unter anderem am 29. Oktober im Carlswerk Victoria in Köln Station.

Passender hätte der Releasetermin von “Nothing But The Truth” also nicht gewählt werden können. Einige der hier vertretenen Stücke werden die Fans auch im Rahmen der Konzerte zu hören bekommen. Aber schon das Album versetzt einen mitten in die Live-Atmosphäre: Es wurde in Surround-Sound abgemischt und kann neben der BluRay-Version auch beim Streaming-Dienst Apple Music im Multikanal-Ton genossen werden.

Querschnitt der 22-jährigen Band-Karriere

Die Songs bilden dabei einen guten Querschnitt der 22-jährigen Band-Karriere. Das Eröffnungsstück “Versions Of The Truth” zeigt gleich, dass The Pineapple Thief seit ihren Anfängen merklich gereift sind und sich mittlerweile auch vor Experimenten nicht scheuen. So erinnert der Marimba-Sound unverkennbar an die Peter-Gabriel-Scheiben III und IV in den frühen 1980ern. Auch beim ebenfalls aktuellen “Demons” beschreitet die Formation neue Wege und klingt im Refrain fast fröhlich – kein Vergleich zu den Anfangstagen, als PT wegen Bruce Soords etwas weinerlicher Stimme und den Alternative-Anklängen sogar mit Billy Corgans Smashing Pumpkins verglichen wurden.

Besonders herauszuheben sind auf dem Mitschnitt aber jene (älteren) Songs, bei deren Studio-Versionen Gavin Harrison noch nicht am Schlagzeug saß. Deren Live-Versionen profitieren so enorm von seinem ausgefeilten Spiel, dass man manchmal fast meint, komplett neue Pineapple-Thief-Stücke zu hören. Beste Beispiele: “Warm Seas” und “Someone Pull Me Out” von “All The Wars” (2012) oder “Wretched Soul” von “10 Stories Down” (2004).

The Pineapple Thief - Our Mire

“The Final Thing On My Mind” als fulminanter Abschluss

Dagegen ist “The Swell” wirklich ein neuer Song – oder zumindest einer, den man auf keinem regulären PT-Album finden kann. Er ist nur in der BluRay-Version von “Versions Of The Truth” enthalten und feiert nun auf dem Live-Album sein fulminantes Live-Debüt. Der 16. und letzte Song ist dann passenderweise “The Final Thing On My Mind”. Das “Your Wilderness”-Highlight bildet auch den absoluten Höhepunkt des Lockdown-Konzertes, bei dem die Band alle ihre Qualitäten in knapp zehn Minuten zusammenfasst: Dichte Atmosphäre, anspruchsvolle Lyrics und ein Finale, das mit einem tollen Gitarrensolo von Wayne Higgins und dem treibenden Schlagzeug-Rhythmus von Gavin Harrison völlig begeistert.

Fazit: Eine absolute Höchstwertung gibt es von mir für die gesamte musikalische Darbietung und die brillante Abmischung des Geschehens. Dass “Nothing But The Truth” trotzdem nicht die volle Punktzahl erhält, dafür können alle Beteiligten nichts. Denn ohne lautes Mitsingen und rhythmisches Klatschen geht die Scheibe eben doch nur als halbes Live-Album durch.

Es besteht in der Beziehung also noch etwas Steigerungspotenzial. Aber vielleicht lassen The Pineapple Thief ja auch auf ihrer aktuellen Tour die Bänder mitlaufen, sodass wir uns schon bald auf ein weiteren Mitschnitt freuen können. Und dann sogar mit Publikum im Hintergrund…

Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ ⭐️ (10 von 12 Punkten)

Album: Pineapple Thief – Nothing But The Truth (Live, 2021)
Laufzeit: 91 Min.
Label: Kscope
Format: Digital, CD, BluRay

Trackliste:

  1. Versions Of The Truth
  2. In Exile
  3. Warm Seas
  4. Our Mire
  5. Build A World
  6. Demons
  7. Driving Like Maniacs
  8. Someone Pull Me Out
  9. Uncovering Your Tracks
  10. Break It All
  11. White Mist
  12. Out Of Line
  13. Wretched Soul
  14. Far Below
  15. Threatening War
  16. The Swell
  17. The Final Thing On My Mind

The Pineapple Thief im Internet:
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Oliver
Oliver

Ich wurde 1971 geboren – dem Jahr von #4 von Led Zeppelin, Blue von Joni Mitchell, Meddle von Pink Floyd und Master Of Reality von Black Sabbath. Und so unterschiedlich die Stile dieser klassischen Alben sind, so unterschiedlich ist auch mein Musikgeschmack. Hier gibt es mehr Infos über mich

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