Review: Closure / Continuation von Porcupine Tree – Da waren’s nur noch drei… (Großbritannien, 2022)

Porcupine Tree haben einen neuen Longplayer herausgebracht! Vor einem Jahr wäre mir diese Aussage genauso unglaublich vorgekommen, wie vor noch längerer Zeit die Nachricht über ein Virus, das den Lauf unserer Welt verändern wird. Nun halte ich das Werk tatsächlich in Händen. Allerdings mischt sich nach den ersten Durchläufen in meine anfängliche Begeisterung auch etwas Enttäuschung: Waren meine Erwartungen für das erste Studio-Lebenszeichen der Briten seit 2009 vielleicht zu hoch?

Eines steht jedenfalls fest: Diese Kritik ist für mich die schwerste, die ich bisher geschrieben habe. Auch über die Bewertung von “Closure / Continuation” musste ich stundenlang nachdenken. Denn was hier vorliegt, ist musikalisch zwar wieder vom Allerfeinsten. Aber um es vorweg zu nehmen: Kompositorisch holen mich nicht alle der sieben regulären Albumtracks ab. Auch der viel beschworene “Gänsehautfaktor”, der bei Porcupine Trees Musik bisher fast immer vorhanden war, stellt sich zu selten ein.

Brillanter Auftakt bei Porcupine-Tree-Rückkehr

Das ist allerdings Jammern auf höchstem Niveau. Der Name dieser Webseite ist an einen Song angelehnt, den ich unter all den vielen Geniestreichen der Progressive-Rock-Speerspitze immer noch für ihren besten halte (“Buying New Soul”) – und das, obwohl er noch nicht mal auf einem regulären Album, sondern nur auf der B-Seiten-Compilation “Recordings” (2001) erschienen ist. Ich glaube, das sagt alles über die unglaubliche Qualität von Porcupine Tree aus.

Pure Begeisterung brach bei mir daher aus, als ich das erste neue Stück, nach fast 13-jähriger Studio-Abstinenz (Der letzte Longplayer war “The Incident” in 2009), Ende letzten Jahres zum ersten Mal gehört habe. Die Gruppe, die mittlerweile zum Trio geschrumpft ist, weil Bassist Colin Edwin für die neue Platte schlichtweg nicht berücksichtigt wurde, legt mit “Harridan” los, als wäre sie nie weg gewesen. Und man merkt nach den ersten Sekunden: Dies ist ein extrem rhythmusbetonte Scheibe. Steven Wilson zeigt mit den Stakkato-haften Bassriffs sofort an, wo es lang geht. Die Abstinenz von Colin Edwin soll sich keinesfalls negativ bemerkbar machen: “Ich kann auch richtig gut Bass spielen!”, schreit uns der Protagonist regelrecht entgegen.

Steven Wilson, hier bei einem Porcupine-Tree-Auftritt am 4. Dezember 2007 im Palladium Köln, schrumpft seine Band zum Trio. © Oliver Prause

Das kann der Bandleader zweifelsohne. Dennoch fehlt mir gelegentlich genau jene ruhig-abgeklärte Vituosität des früheren Manns an den Saiten, die in der Vergangenheit einen Großteil der Faszination vieler klassischer Tracks – wie eben “Buying New Soul” – ausgemacht hat. Aber genug der Kritik am Opener – der schickt sich nämlich ebenfalls an, ein Klassiker im Repertoire zu werden.

Drummer Gavin Harrison ist eine lebende Legende

Besonders herausstellen muss man erneut die überragende Arbeit von Gavin Harrison an den “Trommelfellen”. Der Schlagzeuger ist schon zu Lebzeiten eine Legende und meistert auch hier die atemberaubendsten Tempowechsel, als wären sie das Leichteste auf der Welt. Um seiner Brillanz gerecht zu werden, muss man ihn in einem Atemzug mit den ganz großen Meistern des Business nennen, die schon um einiges länger hinter dem Drumkit sitzen. Für mich ist Gavin Harrison mit seinen Engagements bei den zwei Prog-Größen, die mit P anfangen (Porcupine Tree und Pineapple Thief) so etwas wie der Bill Bruford des 21. Jahrhunderts, der in den 1970/80er-Jahren bei Yes und – kurzzeitig live – bei Genesis trommelte. Ihr gemeinsamer Nenner ist außerdem King Crimson – eine weitere stilprägende Prog-Formation, in der beide aktiv waren.

Die Vorab-Auskopplung, die passenderweise auch der erste Song des fertigen “C/C” ist, zeigt aber auch Steven Wilson gesanglich in Hochform. Großartig, wie er mit zerbrechlicher Stimme den traurigen Text im Schlussteil singt. Auch die lange, mit vielen Wendungen gespickte Instrumental-Sequenz mit Industrial-Anklängen zeigt die Band voll auf der Höhe der Zeit.

It’s the time of the almost rain without you.

I am in debt to night.

And gone to earth for love.

And I, a shadow.

And what of us?

And what of me?

And what is left without you?

Porcupine Tree – Harridan (Auszug)

Porcupine Tree spielen auch mal auf “Nummer sicher”

Nach “Harridan”, das bereits im November 2021 veröffentlicht wurde, war ich so geflasht, dass ich die anderen beiden Songs, die noch vor dem offiziellen Album-Release herauskamen, ignoriert habe. Denn viel besser als dieser perfekte Comeback-Song konnten sie kaum mehr sein. Leider bestätigte sich diese Annahme. Denn “Of The New Day” als Stück Nummer zwei ist eine schöne Ballade, die man aber in ähnlicher Form schon mehrfach von Porcupine Tree gehört hat. Der Song spielt meiner Meinung nach etwas zu sehr auf “Nummer sicher” – ganz im Gegensatz zu “Harridan”, der zwar auch vertraut, aber gleichzeitig neuartig klingt.

Viel mutiger kommt dagegen “Rats Return” daher, die dritte Vorab-Single. Sie beginnt mit sphärischen Klängen von Richard Barbieri, die zunächst in ein wahres Riffgewitter und dann urplötzlich in einen unwiderstehlichen Groove münden. Der Kontrast zwischen Aggressivität und Entspannung übt dabei einen großen Reiz aus. Auch die krummen Takte, die Gavin Harrison hier erneut anschlägt, machen einmal mehr sprachlos.

Herauszuheben ist zudem der Text, der eine mehr als nur zufällige Ähnlichkeit mit Pink Floyds Songzyklus “Animals” (1977) aufweist. In bester George-Orwell-Manier zieht Steven Wilson in diesem Fall über einige der “Ratten” her, die in der Weltgeschichte ihre Macht gegenüber Schwächeren ausgeübt haben oder immer noch ausüben. Die Aufzählung bekannter Namen (“Genghis K, Pinochet, Mao Tse Tung , Kim Il-Sung”) weckt wiederum Erinnerungen an die beißende Gesellschaftskritik des letzten Floyd-Albums mit Roger Waters, “The Final Cut”.

Porcupine Tree - Rats Return (Official Video)

“Closure / Continuation” ist komplex und stereotyp zugleich

Porcupine Tree in Reinkultur bringt uns danach “Dignity”. Herrlich relaxed kommt der fast neunminütige Song daher, aber unter der samtweichen Oberfläche verbirgt sich ein kompositorischer Monolith. Mitten drin hat man sogar den Eindruck, alles endet bereits hier in kompletter Stille. Doch dann erhebt sich ein brillantes Gitarrensolo von Steven Wilson – leider fast das einzige im gesamten Albumverlauf – und das Lied steigert sich immer weiter, bis zum absoluten Höhepunkt am Ende. Die mitreißende Melodie im mehrstimmigen Refrain ist die letzte Zutat, die nötig ist, um mir oben beschriebene Gänsehaut zu bescheren. Ein wahrer Ohr-gasmus!

“Herd Culling” baut sein Fundament danach auf einem weiteren prominenten Bass-Riff von Steven Wilson auf. Und, wie schon erwähnt, der Frontmann versteht sein Handwerk auch hier bei den tiefen Tönen wirklich gut. Wilsons Anfangsidee für diesen Song ist mir – zumal über eine Länge von gut sieben Minuten gestreckt – dann aber doch etwas zu stereotyp. Dass die Lyrics erneut eine Allegorie orwellscher Machart sind – die Herde und der “böse Wolf” –, ist außerdem nicht sonderlich einfallsreich. Insgesamt kein schlechter Song, aber doch ein ganzes Stück entfernt von einem Porcupine-Tree-Klassiker.

Der Album-Abschluss ist leider enttäuschend

Das gilt leider auch – und ganz besonders – für “Walk The Plank”, das mich sowohl musikalisch als auch textlich völlig kaltlässt. Verlorene Album-Laufzeit, die man besser für einen der drei Bonustracks der Deluxe-Edition hätte reservieren sollen. Aber dazu komme ich noch später.

Den Abschluss bildet “Chimera’s Wreck” – der fast zehnminütige Longtrack, auf den alle Hardcore-Progger natürlich sehnsüchtig gewartet haben. Er beginnt mit sanfter Akustikgitarre und Wilsons klagender Stimme wie eine typische Metal-Halbballade à la Iron Maiden, um sich dann nach dem vierminütigen Vorspiel in eine musikalische Achterbahnfahrt zu entwickeln. Man müsste angesichts des Textes, der von einem gestrandeten Schiff handelt, aber wohl eher vom Auf und Ab der Wellen sprechen, das sich hier entwicklelt. Leider sind die Gitarrenriffs, die die ganze Dramatik untermalen sollen, nur Kost von der Stange: Man ist sich sicher, sie irgendwo schon mal gehört zu haben – schade! Erwähnenswert ist noch ein kurzes Wilson-Solo, das irgendwie bluesig daherkommt, aber bei mir ebenfalls nicht den richtigen Nerv trifft.

Der bisherige Bassist Colin Edwin, hier bei einem seiner letzten Auftritte mit Porcupine Tree am Oktober 2010 im Ruhrcongress Bochum. © Oliver Prause

Wirklich schlimm finde ich dessen Falsetto-Gesang. Der wirkt nicht natürlich, sondern – wie auf seinem durchschnittlichen letzten Solo-Werk “The Future Bites” – viel zu gequält. Nicht falsch verstehen: Dass der Bandleader nicht der beste Sänger vor dem Herrn ist, finde ich absolut nicht schlimm – solange die Emotionen rüberkommen (etwa bei “Harridan” oder “Dignity”). Aber er sollte wie ein Schuster bei seinem Leisten bleiben und nicht versuchen, ständig wie Prince zu klingen. Man merkt es an meinen Worten: Das Finale kann sich in keinem Moment mit Großtaten wie “Anesthetize”, “Arriving Somewhere But Not Here” oder “Russia On Ice” messen – und daher bleibt bei mir, trotz wirklich guter Songs auf “C/C”, letztlich ein leicht bitterer Beigeschmack zurück.

Porcupine Tree brillieren bei Bonustracks

Gleich darauf folgt jedoch das große “Aber”: Denn da sind ja noch erwähnte Bonustracks des Deluxe-Boxsets, das – inklusive einer BluRay – mit rund 60 Euro zu Buche schlägt. Und diese zeigen Porcupine Tree nochmal in Hochform: “Population Three” (eine Anspielung, dass Porcupine Tree jetzt nur noch zu dritt sind?) setzt die Tradition starker Instrumentals der Gruppe fort und nimmt den Hörer diesmal wirklich mit auf eine emotionale Berg- und Talfahrt. “Never Have” mit seinem unwiderstehlichen Rhythmus ist als klassische Porcupine-Tree-Ballade die viel bessere Alternative zu “Of The New Day”.

Und “Love In The Past Tense” ist nicht nur wegen seines Folk-Beginns, der stark an “Last Chance to Evacuate Planet Earth Before It Is Recycled” vom 2000er-Klassiker “Lightbulb Sun” erinnert, das außergewöhnlichste Stück der gesamten “C/C”-Sessions. Die Gesangsleistung von Steven Wilson – teilweise mehrstimmig übereinandergelegt – und das geschmackvolle Schlagzeugspiel von Gavin Harrison machen es zu einem Erlebnis, dass sich kaum in Worte fassen lässt. Sogar Wilsons kurze Falsetto-Einlagen stören das Gesamtbild in diesem Fall überhaupt nicht.

Mit einer etwas anderen Songauswahl hätte das gesamte Album das Zeug zum PT-Klassiker gehabt. So aber gibt es von mir – wegen eines Totalausfalles und einiger weniger begeisternder Stücke – einen deutlichen Punktabzug in der A-Note.

Abzüge auch beim Artwork

Bei der B-Note muss man allerdings die unglaublich transparente Abmischung des Albums lobend erwähnen. Besser geht es kaum! Besitzer teurer Soundanlagen können sich über ein absolutes Referenzniveau freuen. Besonders gut genießen lassen sich die Stücke auch mit hervorragend klingenden Kopfhörern wie den AirPods Max von Apple. Auf dem Musikdienst des Branchengiganten gibt es zudem – wie auch auf der BluRay der Deluxe-Boxsets – die ersten sieben Tracks als “Dolby Atmos”-Mix. Damit erlebt man die Musik – im wahrsten Wortsinn – noch einmal von völlig neuen Seiten.

Bandfoto Porcupine Tree
Gavin Harrison, Steven Wilson und Richard Barbieri (v.l.) touren im Herbst wieder als Porcupine Tree durch Europa. © Brandon Milberger

Doch auch in Sachen B-Note muss ich etwas Kritik üben: Denn das Cover und das gesamte Artwork mit seinen Abkürzungen und grafischen Formen sind das mit Einfallsloseste, was Porcupine Tree seit der Gründung Ende der 1980er-Jahre abgeliefert haben. Ich weiß zwar, dass es sich diesmal eben um kein Konzeptalbum handelt, das rechtfertigt aber nicht die lieblose Gestaltung des Drumherum.

Sonst aber hat die Band nach der langen Abwesenheit rein gar nichts von ihrer Kunstfertigkeit verlernt. Somit überwiegt bei mir insgesamt die Freude darüber, dass sie endlich zurück ist – wenn auch mit einem Mitglied weniger. Wohin die weitere Reise geht, bleibt unklar. Der Albumtitel deutet einerseits den Abschluss, andererseits die Fortsetzung an (“Closure/Continuation”). Es bleibt zu hoffen, dass die überragenden Verkaufszahlen – unter anderem landete das neue Album in Deutschland auf Platz eins der Charts – auf letzteres hindeuten.

Porcupine Tree kommen nach Oberhausen

Für den Moment sollte man die unerwartete Porcupine-Tree-Rückkehr einfach genießen und sich – wie ich – auf die Europatournee im Herbst freuen, die die Band unter anderem am Sonntag, 6. November, auch in die Rudolf-Weber-Arena nach Oberhausen führen wird. Dabei darf man gespannt sein, wie sich “C/C” auf der Bühne schlagen wird. Traditionell entwickeln Porcupine-Tree-Tracks bei Konzerten ja ihre ganz eigene Dynamik – und die Band hat schon angekündigt, dass sie das neue Album im ersten Teil komplett spielen möchte. Als Gastmusiker sind dann übrigens die in der Prog-Szene allseits bekannten Randy McStine (Gitarre) sowie Nate Navorro (Bass) dabei. Dagegen ist John Wesley, der bei Konzerten sonst immer an den Saiten assistierte und auch sang, ebenfalls während der langen Auszeit auf der Strecke geblieben.

Karten für die Konzerte der Europatournee gibt es unter anderem auf Eventim.de.

Bewertung (reguläres Album): ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (8 von 12 Punkten)
Bewertung (Bonustrack-Edition): ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (10 von 12 Punkten)

Album: Porcupine Tree – Closure / Continuation (2022)
Laufzeit: 66 Min. (Bonustrack-Version)
Label: Music for Nations
Format: Digital, CD, BluRay, Vinyl

Trackliste:
1. Harridan
2. Of The New Day
3. Rats Return
4. Dignity
5. Herd Culling
6. Walk The Plank
7. Chimera’s Wreck
Bonustracks:
1. Population Three
2. Never Have
3. Love In The Past Tense

Porcupine Tree im Internet:
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Oliver
Oliver

Ich wurde 1971 geboren – dem Jahr von #4 von Led Zeppelin, Blue von Joni Mitchell, Meddle von Pink Floyd und Master Of Reality von Black Sabbath. Und so unterschiedlich die Stile dieser klassischen Alben sind, so unterschiedlich ist auch mein Musikgeschmack. Hier gibt es mehr Infos über mich

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