Rückblick: Alben des Jahres 2022 – das ist der Spitzenreiter

Besser zu spät als überhaupt nicht – das ist die Devise bei meinem musikalischen Rückblick auf 2022. Aufgrund von hartnäckigen Problemen nach einer eigentlich längst überstandenen Corona-Erkrankung kann ich erst jetzt – 14 Tage nach Silvester – meine persönlichen Highlights des vergangenen Jahres zusammenstellen.

Beim Blick auf die Top 10 und auch die wiederentdeckten Schätze ist auffällig, dass sich mein Interesse in den letzten zwölf Monaten weiter in Richtung Post Rock verlagert hat. Manche besonderen Werke aus diesem Genre gaben mir wirklich Kraft in – nicht nur gesundheitlich – schweren Zeiten. Die Künstler und Bands sprachen mir im wahrsten Sinne des Wortes “aus dem Herzen” – obwohl sie meist rein instrumental unterwegs sind.

The Sun Burns Bright – eine Band, die keine ist

Besonders hervorheben möchte ich natürlich den Spitzenreiter, bei dem es sich nicht nur musikalisch um eine außergewöhnliche Platte handelt. Denn The Sun Burns Bright ist keine Band, sondern das Ein-Mann-Projekt von Christopher Garr aus Birmingham, England. Mit Unterstützung von nur einer Handvoll Gastmusikern wie etwa Torsten Kinsella (God Is An Astronaut) bietet der Gitarrist auf A Hollow World eine emotionale Achterbahnfahrt. Jedes Stück beinhaltet mitreißende Melodien und steigert sich zum Ende hin zu einem Crescendo mit Gänsehautgarantie. Außerdem hat das Werk genau die richtige Länge – nicht eine Sekunde davon ist vergeudete Zeit.

The Sun Burns Bright - Ominous [Single] (2022)

Dahinter hat auch Mick Moss mit Antimatter – ebenfalls mittlerweile ein Solo-Projekt – eines seiner besten Alben veröffentlicht. Kaum zu glauben, dass es sich bei den Kompositionen um Restbestände aus der Band-Geschichte handelt, die teilweise schon mehr als ein Jahrzehnt alt sind und erst kürzlich aufgenommen wurden. Denn die Songs klingen frisch und wie aus einem Guss – wozu auch die brillante Produktion beiträgt. Moss’ überragende Stimme ist natürlich wie immer das Tüpfelchen auf dem I. Anspieltipps: “No Contact”, “Heathen” und “Fold”.

Auch Platz 3 darf nicht unerwähnt bleiben. Das A-Perfect-Circle-Mastermind Billy Howerdel wandelte 2022 ebenfalls auf Solo-Pfaden. Im Gegensatz zu seinem gitarrenorientierten Projekt Ashes Divide (2008) lotet der Gitarrist, Songwriter und Arrangeur mit “What Normal Was” die Grenzen von Elektro-Pop und Alternative aus. Auch hier gilt: weniger ist mehr. Nach 42 Minuten ist die Scheibe zu Ende – und angesichts von Songs mit mitreißenden Refrains und Hit-Potenzial wie “Selfish Hearts”, “Free And Weightless” oder “Poison Flowers” drückt man unverzüglich wieder die Repeat-Taste auf dem CD-Player. Ein düsteres Meisterwerk!

Billy Howerdel - Free And Weightless (Official Music Video)

Porcupine Tree mit durchwachsenem Comeback

Insgesamt bot 2022 allerdings nicht die Masse an tollen Produktionen wie das vorvergangene Jahr. Eine kleine Enttäuschung war für mich das Studio-Comeback von Porcupine Tree. Erwartet hatte ich einen erneuten Klassiker, herausgekommen ist eine halbgare Zusammenstellung bisher unveröffentlichter Stücke, die – im Gegensatz etwa zu oben erwähnten Antimatter – nicht so richtig fesseln kann. Natürlich hatte ich die neue Scheibe meiner absoluten Lieblingsband aber in Dauerrotation – und dabei ist sie mir zumindest etwas ans Herz gewachsen, sodass es immerhin noch für Rang 8 reicht.

Wiedergutmachung gab es außerdem durch die brillante Welt-Tournee, die die Band am 6. November unter anderem auch in die König-Pilsener-Arena nach Oberhausen führte. In diesem Sommer gibt es noch ein paar Open-Air-Shows im Rahmen von Festivals (unter anderem am 20. Juni in Bonn), danach wird Steven Wilson erneut solo weitermachen und das Kapitel Porcupine Tree möglicherweise zu den Akten legen. Oder doch nicht? Der zweite Teil des Albumtitels (Continuation) lässt zumindest eine Hintertür offen.

Transport Aerian sprengen Genre-Grenzen

Erwähnenswert sind überdies die sechstplatzierten Transport Aerian aus Belgien: Deren “Skywound” ist eine völlig abgefahrene Scheibe, die sich in kein Genre einsortieren lässt. Am ehesten erinnern die komplexen Kompositionen noch an die Großtaten von Van der Graaf Generator in den 1970er Jahren. Dafür ist in erster Linie Frontmann Hamlet (!) verantwortlich. Sein Künstlername klingt wie eine Anmaßung, aber einen derart expressionistischen Gesang habe ich zuletzt bei VDDG-Bandleader Peter Hammill gehört. Das Werk der Belgier ist ebenfalls progressiv im besten Sinne: schwere Kost, die aber gleichzeitig eine große Faszination auf den toleranten Hörer ausübt.

Hier sind meine persönlichen Top 10 dieses Jahres:

  1. The Sun Burns Bright – A Hollow World (Post Rock)
  2. Antimatter – A Profusion Of Thought (Alternative Prog)
  3. Billy Howerdel – What Normal Was (Alternative)
  4. Feather Mountain – To Exit A Maelstrom (Alternative Prog)
  5. Long Distance Calling – Eraser (Post Rock)
  6. Transport Aerian – Skywound (Progressive Rock)
  7. Sylvaine – Nova (Blackgaze) Review
  8. Porcupine Tree – CLOSURE/CONTINUATION (Progressive Rock) Review
  9. Envy Of None – Envy Of None (Alternative)
  10. Inhalo – Sever (Progressive Metal)

Und hier fünf Klassiker, die ich in diesem Jahr erst entdeckt bzw. neu zu schätzen gelernt habe:

  • Gentle Giant – Free Hand (Progressive Rock – 1975 / Remix Version 2022)
  • Twelfth Night – Smiling At Grief (Progressive Rock – 1982 / Revisited Version 2022)
  • Slint – Spiderland (Post Rock – 1991)
  • Jakob – Solace (Post Rock – 2006)
  • Athletics – Who You Are Is Not Enough (Post Rock – 2014)

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Oliver
Oliver

Ich wurde 1971 geboren – dem Jahr von #4 von Led Zeppelin, Blue von Joni Mitchell, Meddle von Pink Floyd und Master Of Reality von Black Sabbath. Und so unterschiedlich die Stile dieser klassischen Alben sind, so unterschiedlich ist auch mein Musikgeschmack. Hier gibt es mehr Infos über mich

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