Am Freitag, 1. Oktober, habe ich nach langer Zeit mal wieder das Turock in Essen besucht. Anlass war der überraschende Auftritt einer absoluten Metalgröße: Jinjer aus der Ukraine machten auf ihrer Europa-Tour Station in dem kleinen Kult-Club, den ich bisher immer als gemütlich empfunden habe.
Davon war diesmal aber nichts zu spüren. Da ich aufgrund meines Jobs erst um 20.10 Uhr am Viehofer Platz aufschlagen konnte, erwartete mich erstmal eine lange Schlange vorm Eingang. Nach der obligatorischen Überprüfung von Impfzertifikat (bzw. aktuellem Testnachweis), Personalausweis und Ticket ging’s dann aber irgendwann rein in die kleine Halle.
Metal-Club ist voller als vor Corona
Dort fand ich mich in einer Szenerie wie aus “Zurück in die Zukunft” wieder. Unzählige Metalfans, dicht an dicht, drängten sich in dem Laden. Eine Maskenpflicht gab es wegen der Anwendung der 3G-Regel auch nicht mehr. Kurzum: Es sah aus wie vor gut anderthalb Jahren – so, als hätte es Corona nie gegeben. Etwas war jedoch anders. Es war noch voller, als ich es jemals dort in Erinnerung hatte – und ich war schon desöfteren im Turock.
Pünktlich zum Ende der Sitz-Pflicht bei Konzerten in Nordrhein-Westfalen am 30. September wollten die Organisatoren offenbar in die Vollen gehen – und das im wahrsten Wortsinne. Meiner Meinung nach waren schon zu viele Menschen vor Ort – auch wenn ich natürlich verstehen kann, dass nach der langen Durststrecke so viele Karten wie möglich verkauft werden sollten. Es war fast so, als wollten die Turock-Macher der Politik mit diesem restlos ausverkauften Konzertabend ohne jegliche Kontaktbeschränkungen ein lautes “Fuck you” ins Gesicht schreien, verbunden mit dem Stinkfinger nach der quälend langen Pandemie-Auszeit.
“Space Of Variations” begeistern die Massen
Was soll’s und was soll mir als Geimpftem schon passieren, dachte auch ich nach einer kurzen Eingewöhnungsphase. Und dann war ich schon wieder im Konzert-Flow der alten Zeiten – was die erste Vorband mir aber wirklich leicht machte. Space of Variations kommen auch aus der Ukraine, und zuvor hatte ich noch nie was von ihnen gehört – geschweige denn davon, dass sie als Support von Jinjer auftreten.
Aber dann gab es am Donnerstag eine witzige Begebenheit: Gitarrist Anton schrieb mich über Facebook an und wollte wissen, ob ich oder meine Freunde nicht irgendwo einen Schlafplatz nach dem Konzert für seine insgesamt sechsköpfige Truppe kennen würden. Alle würden nicht trinken oder rauchen und hätten ihren eigenen Schlafsack mit im Gepäck. Ich habe ihm dann guten Gewissens das Hostel “In Hostel Veritas” in der Nähe des CentrO empfohlen, in dem ich selbst schon mal sehr gut und günstig übernachtet habe.
Ob die Band letztlich dort landete, weiß ich allerdings nicht. Im allgemeinen Gedränge habe ich Anton im Anschluss an ihre Show nicht mehr gesehen. Die war aber klasse. Irgendwie erinnerte mich die Formation an Linkin Park, nur als Metalcore-Variante. Zumal auch der Sänger dem verstorbenen Frontmann Chester Bennington mit seinen kurzgeschorenen Haaren ähnlich sah. So brav, wie Anton mir sich und seine Kollegen beschrieben hatte, waren sie auf der Bühne glücklicherweise nicht. Sie ließen richtig die Sau raus, und das eine oder andere “Fuck you” fiel ebenfalls.
Hypno5e sind ein kleiner Stimmungskiller
Die Crowd ging bereits jetzt richtig ab. Ich war in dem Fall sogar froh, wegen meines späten Eintreffens nur einen Stehplatz weit hinten bekommen zu haben. Denn vorne wurde heftigst “gemoshpitted”. Den Kick brauche ich in meinem Alter aber nicht mehr, sorry! Nach einer knappen Dreiviertelstunde war der Gig zu Ende und alle Gemüter konnten sich bei einem Bier erstmal abkühlen. Die lauten Zugaberufe der Masse verrieten aber, dass Space of Variations einen Top-Auftritt hingelegt hatten.
Umso größer war nach dem tollen Auftakt meine Vorfreude auf den zweiten Support. Jedoch waren Hypno5e – fast wie der Name es schon vermuten lässt – ein kleiner Stimmungskiller an dem Abend. Nicht die Tatsache, dass die Gruppe aus dem Nachbarland nur in französischer Sprache sang, war irritierend. Aber die Introvertiertheit, mit der sie zur Sache ging, passte irgendwie nicht ins Bild. Als Vergleich zu ihrer Musik könnte man Alcest (nur ohne Neiges Black-Metal-Vocals) heranziehen – eine andere Band aus Frankreich, die ich im Übrigen sehr mag. Aber auch sie wäre im Turock diesmal Fehl am Platz gewesen. Auch wenn Hypno5e doch einige Fans im Publikum zu haben schienen – der Applaus am Ende fiel deutlich verhaltener aus.
Charismatische Jinjer-Frontfrau Tatiana Shmaylyuk
Nach einer kurzen Umbaupause war es dann soweit. Jinjer enterten die Bühne und legten sofort mit “Call Me a Symbol” von ihrem gerade erst veröffentlichten Album “Wallflowers” heftig los. Riffs, Hooks und Blastbeats am laufenden Band lieferte das Quartett schon im ersten Song. Und natürlich schwebte über allem die extrem wandlungsfähige Stimme von Frontfrau Tatiana Shmaylyuk.
Die 34-Jährige ist eine der besten Sängerinnen im Bereich der Female-Fronted-Bands. Wenn sie ihre brutalen Growls auspackt, singt sie wie ein Kerl. Doch wenn es mal zu besinnlicheren Momenten bei Jinjers Shows kommt – wie in Essen beim Titelsong der neuen Platte, “Wallflower” – dann kann sie auch sehr zerbrechlich wirken und tiefe Emotionen wecken.
Der größte Hit wird nicht gespielt
Aber auch Ska ist Tatiana und ihren Kumpels nicht fremd. In Teilen von “Judgement (and Punishment)” könnte man fast vermuten, sie wäre die talentiertere Schwester von “No Doubt”-Sängerin Gwen Stefani. Solche Vergleiche sind dem eingefleischten Metal-Anhänger aber sicher ein Graus. Dennoch muss man festhalten, dass Jinjer durch ihre großen Platten- und Konzerterfolge schon fast im Mainstream des extremen Musikgenres angekommen sind.
Wer die Band aber nur von ihrem Mega-YouTube-Hit “Pisces” kennt, wird über die ultrabrutalen Klänge im Turock bestimmt erstaunt gewesen sein. Aber Jinjer sind nun mal – trotz aller vorhandenen technischen Virtuosität – immer noch eine Metalcore-Combo. Dass Jinjer das Stück an diesem Abend nicht spielen, versteht sich da schon fast wie von selbst.
Schweißgebadet, aber glücklich nach Hause
Gegen 23.15 Uhr ist dann Schluss im Turock. Ich gehe wie alle anderen Fans völlig ausgelaugt und schweißgebadet nach Hause, auch die Schuhe kleben vom eingetrockneten Bier auf dem Hallenboden. Trotzdem bin ich glücklich. Denn: Es war eben wieder fast alles wie in den alten Zeiten – und das ist einfach gut so.