Da ist es nun also, das achte Studio-Album von Riverside. Meine Vorfreude darauf hielt sich nach der Veröffentlichung der äußerst gewöhnungsbedürftigen Singles “I’m Done With You” und “Self Aware” – freilich jeweils in gekürzten Versionen – doch sehr in Grenzen. Trotzdem läuft “ID.Entity” seit dem gestrigen Release im Homeoffice, im Auto und in der Freizeit in Dauerrotation – und tatsächlich ist die anfängliche Skepsis einer gewissen Faszination gewichen.
Wohl auch andere Fans der polnischen Progressive-Rock-Speerspitze werden sich die neue Scheibe erstmal erarbeiten müssen. Wie die beiden Vorab-Veröffentlichungen kommt das gesamte Werk nämlich zunächst sperrig und untypisch für Riverside daher. Das Quartett bricht mit Hörgewohnheiten – und das für seine Verhältnisse ziemlich radikal.
Die Keyboard-Klänge sind Geschmackssache
Schon der Opener “Friend Or Foe?” lässt dem Hörer – passend zum Songtitel – keine dritte Wahlmöglichkeit: Entweder man mag die Keyboard-Klänge im etwa zweiminütigen Intro oder eben nicht. In letzterem Fall ist es dann auch schwierig, die verbleibenden gut 50 Album-Minuten genießen zu können. Denn immer wieder liefert Tastenkünstler Michał Łapaj, der 2021 mein persönliches Album des Jahres herausgebracht hatte, an seinen Gerätschaften Reminiszenzen an die 1980er Jahre, die bei vielen Anhängern anspruchsvoller Populärmusik auch heute noch für Magenverstimmung sorgen.
Es ist davon auszugehen, dass sich Riverside in den nächsten Wochen ähnlicher Kritik ausgesetzt sehen, wie 2016 die britischen Prog-Metal-Kollegen Haken mit ihrem kontroversen “Affinity”, das gelegentlich sogar nach Yes’ 90125 klang. “Owner Of A Lonely Heart”-Erinnerungen werden bei “ID.Entity” zwar nicht wach, aber die Neo-Prog-Welle stand in gewissen Momenten durchaus Pate – immer dann, wenn die Synths zwischendurch richtig “cheesy” klingen, zum Beispiel zu Beginn von “Big Tech Brother”. Ich gebe zu: Ich mag Retro ja gelegentlich – so auch hier.
Einen Hang dazu hatten Riverside immer schon. Łapajs Lieblingsinstrument bei Live-Konzerten ist die Hammond-Orgel (übrigens auch im neuen Song “Post Truth”), und Mariusz Duda tauscht ebenfalls auf Solopfaden gerne mal seinen Bass gegen LoFi-Keyboards und erzeugt damit – wie bei den drei Platten seiner “Lockdown Trilogy” – eine ganz besondere, widersprüchlicher Weise auch irgendwie moderne Atmosphäre.
An seinem Gesang scheiden sich seit dem Debüt der Gruppe (Out Of Myself, 2003) ohnehin die Geister – und auch auf “ID.Entity” gibt es hierbei keinen Mittelweg. Den lässt der Riverside-Frontmann den Fans diesmal auch textlich nicht. Die Zeiten metaphorischer Lyrics, wie beispielsweise auf der brillanten “Forgotten Land”-EP oder dem Vorgängeralbum “Wasteland”, sind definitiv vorbei.
Das neue Werk dreht sich um Entfremdung, Enttäuschung – und Egotrips von Social-Media-Selbstdarstellern, von denen der Nutzer am anderen Ende der Leitung oft nicht weiß, ob sie eben Freund oder Feind sind. Mariusz Duda äußert seine Kritik an der Anonymität in einer hochtechnisierten Welt dabei direkter denn je. Die Texte hauen voll auf die Zwölf und lassen – wie das ähnlich gelagerte Kultalbum “Fear Of A Blank Planet” von Porcupine Tree – kaum Spielraum für Interpretationen.
Direkte Ansprache statt metaphorischer Lyrics
Mit Zeilen wie “I went out into the street / Wasn’t here for a long time / Everyone’s divided / Extreme right or extreme left / That’s the only choice” macht der Riverside-Texter es sich manchmal aber etwas zu einfach. Er reduziert damit die gesellschaftliche Realität auf Schwarz und Weiß — was sie aber natürlich nicht ist. Denn glücklicherweise gibt es sie weiterhin, die Grautöne – sowohl im Zwischenmenschlichen als auch Politischen.
Meine geäußerte Kritik ist jedoch Jammern auf höchstem Niveau: Denn in Sachen Innovation haben Riverside Porcupine Tree – mit denen sie sich in der Vergangenheit häufig messen lassen mussten – mittlerweile längst den Rang abgelaufen. Deren Comeback “Closure/Continuation” erschließt sich im direkten Vergleich zwar viel schneller, was in diesem Fall aber kein Kompliment ist. Denn wirklich progressive Musik dient natürlich auch dem Zweck, den Hörer herauszufordern und ihn mit ihrer Andersartigkeit bisweilen zu provozieren – und beides gelingt den vier Polen auf “ID.Entity” blendend.
Eine resignierende “Brave New World”
Ein Tritt in den Hintern ist etwa die einleitende Stimme im dritten Lied: “Hello listener! If you want to hear the next song, you must first agree to terms and conditions. It won’t hurt. Well, at least not now – maybe later”, erklärt der namensgebende “Big Tech Brother”, bevor die ersten Takte erklingen. Der ungewöhnliche Einstieg spielt auf die Gratis-Mentalität vieler Internet-User an, die sie aber – beispielsweise in der Streaming-Landschaft – mit der Preisgabe von sensiblen persönlichen Daten an den großen Bruder teuer erkaufen. “Mass control, 84, Brave New World” eben, wie es im weiteren Verlauf resignierend heißt.
Im fast neunminütigen Abschluss “Self Aware” zeigen die vier Jungs dann all den durchgeknallten, selbst ernannten “Meinungsführern” im Netz textlich den Stinkefinger: “I’m sick and tired / Of our fighting / On a minefield of the social distance warnings”, schreit Mariusz Duda ihnen mürrisch ins Gesicht – und fordert die noch verbliebenen Vernünftigen auf: “Unsubscribe the ones who make us hostile”.
Auch Albumtitel und Artwork überzeugen
Während Riverside mit ihren Lyrics keine Gefangenen machen, lassen sie dagegen beim Albumtitel Interpretationen zu: “ID.Entity” ist ein schönes Wortspiel, das ihr vielschichtiges Werk perfekt repräsentiert. Genau wie das Cover, auf dem sich eine Figur aus vielen farbigen Bruchteilen zusammensetzt – oder vielleicht gerade auseinanderbricht? Das Persönlichkeitspuzzle – ihr “ID-Wesen” – hat sie aber scheinbar nicht selbst entworfen, sondern ist ihr von außen (von zweifelhaften Vorbildern?) aufgedrückt worden – so interpretiere ich das hervorragende Artwork jedenfalls.
Während ich diese Zeilen schreibe, läuft die Platte natürlich gerade wieder – zum bestimmt schon fünften oder sechsten Mal. Und ich merke, dass sie mich mit ihrer direkten Art – sowohl musikalisch als auch textlich – mehr und mehr anspricht. Wollte ich zunächst nur 8 Punkte in der Gesamtwertung vergeben, tendiere ich nun bereits zu einer hochverdienten 9.
Mit jedem Platten-Durchlauf stärker
Wenn Riverside “ID.Entity” im Jahresverlauf – hoffentlich – auch auf deutschen Konzertbühnen spielen, wird bestimmt noch ein weiterer Punkt dazukommen. Denn die Platte ist ein echter “Grower” – und das ist nicht das schlechteste, was man heutzutage über einen neuen Progressive-Rock-Release sagen kann …
P.S.: Die Deluxe-Edition enthält unter anderem noch zwei Long-Tracks, die es aufgrund ihrer Stimmung nicht aufs reguläre Album geschafft haben, aber ebenso hörenswert sind.
Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (9 von 12 Punkten)
Album: Riverside – ID.Entity (2023)
Laufzeit: 53:11 Min.
Label: Inside Out Music
Format: Digital, CD, Vinyl
Trackliste:
1. Friend or Foe? 7:29
2. Landmine Blast 4:50
3. Big Tech Brother 7:24
4. Post-Truth 5:37
5. The Place Where I Belong 13:16
6. I’m Done With You 5:52
7. Self-Aware 8:43
Bonus-Tracks Deluxe-Edition:
1. Age Of Anger 11:56
2. Together Again 6:29
3. Friend or Foe? (Single Edit) 6:00
4. Self-Aware (Single Edit) 5:30
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