Kingcrom sind zurück! Die fünf Italiener haben es sich für den Nachfolger des hochgelobten “The Persistence” (2018) wirklich nicht leicht gemacht. Im September 2021 – mitten in der Corona-Pandemie und damit unter schwierigen Bedingungen – begannen die ersten Aufnahmesessions. Doch dauerte es letztlich bis Anfang dieses Jahres, bis alle neun Tracks fertig waren. Seit dem 23. August 2024 ist “Hopium” offiziell erhältlich. Und schon nach dem ersten Hördurchlauf steht fest: Der Hartnäckigkeit der Band und die Geduld ihrer Fans haben sich mehr als gelohnt! Das Album hebt die Band auf ein anderes Niveau. Auf der Karriereleiter erklimmen sie damit Headliner-Höhen. Kompositorisch, soundtechnisch und emotional ist es das Beste, was ich in diesem Jahr bisher gehört habe.
Der Stakkato-Rhythmus von “Kintsugi” markiert den Startschuss für eine fast einstündige Tour de Force, die virtuos auf allen Klaviaturen der menschlichen Gefühle spielt. “As you say this world is hard sometimes. Yes we failed but we got right back up” singt Diego Marchesi sich die Seele aus dem Leib, über die harten Zeiten, die auch hinter ihm und seinen Kollegen liegen.
Corona stoppt Kingcrow-Tournee
Anfang 2020 waren Kingcrow gerade als Support von Blind Ego auf Europatournee, als das Coronavirus auch die gesamte Musikszene lahmlegte. Am 6. März durfte ich die Gruppe noch bei einem furiosen Auftritt im Zentrum Altenberg in Oberhausen erleben. Einen Tag später spielten sie dann in der Muziekgieterij im niederländischen Maastricht ihr letztes Konzert vor dem Lockdown und würden erst zweieinhalb Jahre später wieder eine Live-Bühne betreten.
Die freigewordene Zeit nutzten die sechs Bandmitglieder stattdessen für ausgiebige Besuche in ihrem Studio “sound under pressure”. Und das war gut so! Der Studio-Name war Programm: Unter dem äußeren Druck (“Pressure”) der Pandemie nahmen Kingcrow ihr bisher ausgereiftestes Werk auf – mit Sounds wie von einem anderen Stern.
Beispiel gefällig: Für den elektronisch klingenden ersten Abschnitt der zweiten Vorab-Single “Night Drive” wurden gar keine Synthesizer eingesetzt, wie Sänger Diego auf der Facebook-Seite der Gruppe erklärt. “Thundra spielte diesen Abschnitt und spielte den eigentlichen Groove mit dem Rimshot auf der Snare & HiHat und Kick. Dann fügten wir Klatschen (von uns aufgenommen) hinzu und, wenn ich mich richtig erinnere, einen Gitarrenkoffer, der mit einem Drumstick gespielt wurde. Alles wurde dann stark komprimiert und verzerrt, um den charakteristischen Snare-Sound zu erreichen, den man auf dem Song hören kann. Wir haben diese Art von Ansatz für die gesamte Platte verwendet, wenn man also etwas hört, das elektronisch klingt, wurde es ausgehend von echten Klängen gemacht, die von uns aufgenommen und dann in der Postproduktion zerstört wurden.”
Unfassbare Soundkulisse durch Studio-Tüfteien
Beim Lesen dieser Erklärungen fiel mir die Kinnlade runter. So viele pfiffige Ideen, so viel Hingabe, so viel Perfektionismus – und das über die gesamte Platte verteilt. Erinnerungen wurden sofort bei mir wach, an Prog-Größen wie Pink Floyd, Genesis und King Crimson, die in den 1970ern ebenfalls monate- oder gar jahrelang an außergewöhnlichen Sounds für ihre legendären Songs getüftelt haben.
Doch “Night Drive” ist auch textlich mitreißend. Gefühlsmäßig schlägt es in dieselbe Kerbe wie z.B. Porcupine Trees “Heartattack In A Layby” (vom 2002er-Album “In Absentia”): Ein Mensch ist nachts in seinem Auto unterwegs und rekapituliert tieftraurig sein verkorkstes Leben. Während dessen prasselt der Regen herunter – und Kingcrow-Mikrofonartist Diego fragt: “What remains attached? While the world slips down the window glass”. Gänsehaut-Lyrik, die tief berührt.
Herausragend sind auch die mehrstimmigen Gesangarrangements auf dem Album, für die ebenfalls eine Menge Zeit bei den Studio-Aufnahmen draufgegangen sein muss. Exemplarisch seien hier die Endsequenzen von “Losing Game” und “White Rabbit’s Hole” genannt, bei denen es vor abenteuerlichen Vocal-Overdubs nur so wimmelt.
Das Beste kommt aber noch. Kingcrow haben sich einen Kracher fürs Ende aufgespart: Der Titeltrack bietet eingefleischten Proggern in achteinhalb Minuten nochmal alles, was das Herz begehrt und die Band ausmacht, ohne dabei über Gebühr kompliziert zu sein. Die Band spielt immer songdienlich und wie eine Einheit zusammen, was sie etwa von den aktuellen Dream Theater wohltuend unterscheidet, die es mit ihrer Virtuosität manchmal einfach übertreiben. Dagegen handeln die Italiener, die 1996 in der Hauptstadt Rom zusammengefunden haben, nach der mir sehr sympathischen Devise: “Weniger ist mehr”.
Das gilt auch für die Laufzeit: Mit dem ruhigen Bonustrack “Come Through”, der einen harmonischen Abschluss der emotionalen Achterbahnfahrt bildet, ist nach gut 53 Minuten Schluss – ohne dass davon für den Hörer auch nur einzige Sekunde verschwendet gewesen wäre.
Hopium ist ein heißer Kandidat fürs Album des Jahres
Obwohl 2024 noch einige Monate vor sich hat: “Hopium” erlaubt sich keine Schnitzer, definiert mit seinen soundtechnischen Spielereien teilweise sogar das gesamte Genre des modernen Progressive Rock neu und ist somit für mich ein heißer Kandidat für das Album des Jahres.
Jetzt fehlt nur noch die Verkündung neuer Tourtermine für Deutschland und mein Glück wäre komplett. Wie Kingcrow ihre komplexen Stücke live rüberbringen, ist sicher ebenso spannend zu hören wie ihr brillantes Studio-Album.
Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (10 von 12 Punkten)
Album: Kingcrow – Hopium (2024)
Laufzeit: 53:27 Min.
Label: Season Of Mist
Format: Digital, CD, Vinyl
Trackliste:
1. Kintsugi 3:54
2. Glitch 3:55
3. Parallel Lines 6:47
4. New Moon Harvest 3:30
5. Losing Game 5:28
6. White Rabbit’s Hole 6:55
7. Night Drive 5:48
8. Vicious Circle 4:21
9. Hopium 8:23
10. Come Through (Bonus Track) 4:20
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