Soen in Essen: Monster-Riffs, Mega-Melodien und melancholische Momente

Zurück in meiner alten “Hood”. In den 1990ern habe ich mehrere Jahre in einer Studentenbude in Essen-Altenessen gewohnt und war daher häufig Gast in der nahegelegenen Zeche Carl. Die war damals der “Place to be” für angesagte Rock- und Metalbands. Das hat sich mit den Jahren etwas geändert. Mittlerweile bevorzugen viele Gruppen der härteren Schiene das Turock in der Essener Innenstadt, Acts mit größerer Fanbase zieht es dagegen oft in die Turbinenhalle im benachbarten Oberhausen. Doch das Zechen-Line-up am Mittwoch, 2. Oktober 2024, ist einfach unwiderstehlich: Soen, die schwedische Progressive-Metal-Supergroup, haben nicht nur ihr aktuelles Album “Memorial”, sondern auch hochkarätigen Support im Gepäck: Trope aus Kanada und Oddland aus Finnland, die beide gerade ebenfalls an neuer Musik arbeiten.

Den Weg zur Wilhelm-Nieswandt-Allee 100 fanden daher neben mir hunderte andere Prog-Anhänger: Die zweite Konzertstation auf der Soen-Europatour – nach Hannover am Abend zuvor – war schon Wochen vorher ausverkauft. Dementsprechend hoch war die Erwartungshaltung. Und sie wurde nicht enttäuscht.

Trope begeistern erneut mit Unplugged-Set – und ganz neuem Song

Zuerst waren Trope an der Reihe, auf die ich mich natürlich besonders gefreut habe. Ich würde mich als Fan der ersten Stunde in Deutschland bezeichnen: Kurz nach dem Release ihres überragenden Debüts “Eleutheromania” (2021, Review hier) konnte ich mit Sängerin Diana Studenberg ein ausführliches Interview führen. Fortan haben mich die Kanadierin und ihr australischer Kompagnon Dave Thompson (a.k.a. Moonhead) immer mal wieder auf dem Laufenden gehalten, in welchen Teilen der Welt sie gerade unterwegs sind. Und das wurden in den vergangenen Jahren immer mehr: Ein erstes persönliches Treffen fand am 9. März 2022 in meiner Heimatstadt in oben erwähnter Turbinenhalle statt (als Support von “The Pineapple Thief”, Bildergalerie hier), und gerade erst haben die beiden sogar eine kurze US-Tour mit den legendären King’s X hinter sich.

Schön zu sehen, wie sich ihre Gastspiele seit 2021 entwickelt haben. In der Corona-Hochzeit kämpften Trope verzweifelt um jeden Auftritt, sei es auch in den kleinsten Clubs oder Bars in Bulgarien oder Rumänien – so ziemlich die einzigen Länder in Europa, in denen damals Konzerte überhaupt möglich waren. Und jetzt spielen sie oft in größeren Hallen, die wie in Essen noch dazu bis auf den letzten Platz besetzt sind: Sogar die Empore ist rappelvoll.

Dave M. Thompson und Diana Studenberg von der Band Trope bei einem Konzert in Essen.
Gitarrist Moonhead und Diana Studenberg betraten als Erste die Bühne in der Essener Zeche Carl. © Oliver Prause

Womit wir beim leidigen Thema Location wären: Wie gesagt, war die Zeche Carl vor Jahren mein zweites Zuhause – von daher war mir bewusst, dass es dort keinen Bühnengraben gibt. Als Fotograf kämpft man sich also während der ersten drei Songs, bei denen das Knipsen erlaubt ist, durch die Front Row – in der Hoffnung auf halbwegs gute Shot-Perspektiven. Nun war aber das Licht bei Trope so (besch…) bescheiden, dass mir diesmal von der Gruppe auch eben nur bescheidene Aufnahmen gelungen sind. Aber egal: Ihr kurzer Unplugged-Gig, bestehend aus sechs Songs, war trotzdem wieder toll. Es gab neben fünf Stücken vom Debüt sogar ein komplett neues Werk zu hören: “Walk On Water” wird auf der zweiten Platte sein, an der Diana und Dave derzeit zwischen den Touren mit Hochdruck arbeiten.

Dessen Titel ist Programm: “Dyad” wird ein Doppelalbum. Auf der einen Seite soll es zugängliche Songs geben, auf der anderen lassen Trope ihrem Faible für komplexe Werke freien Lauf – eines von Dianas Lieblingsalben ist etwa nach eigener Aussage “The Odyssey” von Symphony X. Wie gerne würde ich daher ihre mitreißende Mischung aus Alternative- und Prog-Rock mal in voller Bandbesetzung live hören. Aber leider gibt es Trope aus verschiedenen Gründen weiterhin nur als Duo (und nicht-elektrifiziert) auf der Bühne.

Dennoch schaffen es die beiden auch in der Zeche Carl, ihr Publikum sofort mitzureißen, am Ende gibt es langanhaltenden Applaus. Lustige Anekdote am Rande: Diana bringt in einer Ansage die Hauptband durcheinander. “Es ist toll, heute Pineapple Thief zu supporten”, sagt sie und muss direkt danach, wie die Fans, herzlich über ihren Versprecher lachen. Ganz locker präsentiert sich die Mini-Band anschließend auch am Merch-Stand, an dem es unter anderem T-Shirts, Sticker und natürlich auch ihr Debütalbum zu kaufen gibt.

Eines steht fest: Trope haben auch in Essen viele neue Fans gewonnen, die mit Sicherheit erneut dabei sind, wenn die Band wieder in Deutschland ist. Diana hat mir jedenfalls fest versprochen, dass es bis dahin nicht wieder zweieinhalb Jahre dauern wird. Mal sehen, was alles passiert, wenn das neue Album endlich raus ist. Vielleicht der große Durchbruch? Ich wünsche den beiden jedenfalls alles erdenklich Gute auf ihrem Weg immer weiter nach oben.

Setlist Trope:
Lambs
Plateau
Walk on Water
Planes
Seasons Change
Pareidolia

Schon bei der zweiten Vorband “Oddland” wird es richtig laut

Danach waren Oddland dran. Die Band aus Finnland trägt ihren Namen (“Seltsames Land”) irgendwie zu Recht. Ihre musikalische Mischung ist wirklich eigenartig. Vor dem Konzert habe ich ein bisschen in die Diskografie dieser mir noch völlig unbekannten Formation reingehört. Und muss leider bekennen: Die Studioversionen ihrer bisherigen Stücke, die sich auf drei Alben verteilen, finde ich ziemlich sperrig. Hier vermischt sich Prog mit Djent-Elementen und Math Rock, was man in dieser Form schon höufiger gehört hat und was über eine längere Zeit, zumindest für mich, etwas ermüdend sein kann.

Aber glücklicherweise streuen die Jungs live immer mal wieder ein paar pfiffige Einfälle ins arg frickelige Riff-Gewitter ein. So verbreitet etwa “Skyline” nach einem einleitenden atmosphärischen Gitarrensolo sogar ein paar Elektro-Vibes in der Halle, bevor es dann wieder mit voller Härte und kompliziert weitergeht. Ganz klar: Hier lassen Tesseract und Co. schön grüßen. An anderer Stelle tauscht Lead-Gitarrist Jussi Poikonen seine Klampfe gar mit einem Saxofon, was dem Stück “Unknown”, auch durch einen anschließenden langen Instrumental-Part, eine leicht jazzigere Note verleiht. Druckvoll rüber und sofort auf den Punkt kommen dagegen die neuen Songs “Free Fall” und die kürzlich erst veröffentlichte Single “Eternal Erode”, hier sogar inklusive einem Growl-Part von Sänger Sakari Ojanen. Die volle Halle honoriert’s mit viel Applaus, mittlerweile wird bereits ordentlich “geheadbangt”, wozu die brettharten Oddland-Sounds ja geradezu einladen.

Sakari Ojanen von der Band Oddland bei einem Konzert in Essen.
Sakari Ojanen, Sänger und Gitarrist der finnischen Band Oddland, beim Auftritt in Essen. © Oliver Prause

Zwischendurch verschlug’s mich sogar mal vor das Drumkit von Schlagzeuger Ville Viitanen. So eng wie es in der Zeche Carl ist, saß er mir dabei quasi gegenüber. Seine Bassdrum schüttelte mich so heftig durch, dass ich heilfroh war, an meine MusicSafe-Ohrstöpsel gedacht zu haben. Schon bei Oddland war es richtig laut, daher warnte mich meine Smartwatch mehrfach vor einem Geräuschpegel von mehr als 100 Dezibel. Umso erstaunter war ich, um mich herum nur fast nur Leute ohne Gehörschutz zu sehen. Unfassbar! Entweder waren die alle schon taub oder würden es spätestens nach dem Headiner sein.

Setlist Oddland:
Resonance
Vermilion Pt.4: Feed the Void
Free Fall
Flooding Light
Unknown
Eternal Erode
Skylines
Unity

Soen starten mit ohrenbetäubendem Metal-Feuerwerk – doch am Ende wird es emotional

Und tatsächlich: Schon der Jubel war ohrenbetäubend, als Soen nach einer rund 20-minütigen Umbauphase gegen 21.30 Uhr die Bühne betraten. Die fünf Jungs aus Schweden haben zurzeit einen echten Lauf und treffen mit ihrer komplexen, aber gleichzeitig sehr eingängigen Musik voll den Nerv vieler Anhänger der härteren Gangart. Schon die ersten Riffs des Openers “Sincere” lassen auch in Essen keinen Zweifel aufkommen, dass dies hier kein Kindergeburtstag ist. Der Stakkato-Rhythmus von Ex-Opeth-Drummer Martin Lopez gibt den Takt vor, in dem neben mir die Köpfe rotieren und die langen Haare schwingen. Die Soen-Sounds sind eben einfach mitreißend: Wer bei den catchy Grooves von “Memorial” oder “Deceiver” nicht automatisch mit headbangt und im Refrain die zwei Finger einer Hand zum teuflischen Metalgruß erhebt, ist in diesem Genre fehl am Platz.

Die Songs des neuen Albums wurden von einigen Musikmedien für ihren Mangel an Innovation kritisiert. Ich sehe das anders: Mit “Memorial” haben Soen ihre hohe Kunst, Monster-Riffs, Mega-Melodien und einen Schuss Melancholie miteinander zu verbinden, zur absoluten Perfektion gebracht – und sich somit selbst ein Denkmal gesetzt. Dass zahlreiche Lieder durch die Virtuosität in Sachen Songwriting gleichzeitig chartkompatibel sind, ist dabei kein Vorwurf, sondern ein Kompliment.

Der Bassist der Band Soen Oleksii Kobel schüttelt seine Dreadlocks während eines Konzerts.
Soen-Bassist Oleksii Kobel ließ in Essen nicht nur die Saiten schwingen. © Oliver Prause

Auch bei ihrer Live-Premiere gehen die neuen Stücke gnadenlos gut ab, Bestes Beispiel: “Unbreakable”, bei dem im Refrain auf Aufforderung von Frontmann Joel Ekelöf sogar Gruppen-Klatschen und Mitsingen angesagt ist. Für manchen traditionellen Metal-Fan ist das ein Sakrileg, aber der Sänger spielt offenbar gerne mit den gängigen Szene-Klischees. Zunächst ist er, ganz Rockstar-like, in eine schwarze Lederjacke gekleidet, zur Mitte des Konzerts tauscht er diese aber gegen ein schickes graues Sakko mit Club-Abzeichen aus.

Der leicht provokante Stilbruch passt bestens zur Setlist: Denn das anschließende Stück “Ideate” vom Album “Cognitive”, mit dem Soen 2012 ihre Studiokarriere starteten, schlägt bekanntlich ruhigere Töne an. Gänsehaut-Garantie gibt es auch bei “Illusion”, das wie das gleichermaßen gefühlvolle “Modesty” vom Album “Imperial” (2021) stammt und die enorme Wandlungsfähigkeit der talentierten Truppe aus ehemaligen Musikern von Opeth, Testament und Willowtree beweist.

Richtig emotional wird es nach dem regulären Ende des Sets, welches das brillante “Lotus” vom gleichnamigen 2019er-Werk beschließt. Joel erkennt einen bekannten Fan ganz vorne im Publikum, “der von Beginn unserer Karriere an immer dabei gewesen ist und dem wir daher nun das anschließende Stück widmen”. Dann stimmt er als erste Zugabe – vom zweiten Album “Tellurian” (2014) – “The Words” an und allen Anwesenden fehlen ebensolche, angesichts dieser völlig überraschenden Songauswahl. Noch dazu gibt es das Lied in einer besonderen Version, bei der der Frontmann nur von Teilzeit-Keyboarder Lars Åhlund (hauptberuflich Gitarrist) unterstützt wird.

Nach minutenlangem Applaus gibt es zum Abschluss erneut voll auf die Zwölf: Mit den beiden Knallern “Antagonist” und “Violence” geht ein ganz besonderer Abend zu Ende, der den Besucherinnen und Besucher noch lange im Kopf nachklingen wird. Und das sicher nicht nur aufgrund des extrem hohen Lautstärkepegels…

Setlist Soen:
Sincere
Martyrs
Savia
Memorial
Lascivious
Unbreakable
Deceiver
Ideate
Monarch
Illusion
Modesty
Lotus
The Words
Antagonist
Violence

Artikel teilen
Oliver
Oliver

Ich wurde 1971 geboren – dem Jahr von #4 von Led Zeppelin, Blue von Joni Mitchell, Meddle von Pink Floyd und Master Of Reality von Black Sabbath. Und so unterschiedlich die Stile dieser klassischen Alben sind, so unterschiedlich ist auch mein Musikgeschmack. Hier gibt es mehr Infos über mich

Artikel: 131

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert